Stellt euch vor, die SZ nahm an einer Probe teil und hat ihre Eindrücke festgehalten. Wir wollen sie mit euch teilen:
sueddeutsche.de
Dachau: Greta-Fischer-Schule führt Stück über Namensgeberin auf
Süddeutsche Zeitung, von Martin Wollenhaupt
"Die Gedanken sind überall. Autor und Regisseur Wolfsmehl - mit bürgerlichem Namen Michael Kumeth - tigert auf und ab. Hier Verkabeln, da das Skript, dort die Plätzchen. Für die Schauspieler, zur Konzentration, von seiner Frau. An alles gedacht? Bald werden sie kommen, in den Proberaum, seine Schauspieler, jeden Moment und - das ahnt er - herumalbern, kichern, ihren Einsatz verpassen.
Denn die Besetzung kommt von keiner Theaterschule, sie steht noch ganz am Anfang. In der Schauspielerei wie im Leben. Es sind Viert- und Neuntklässler der Greta-Fischer-Schule. Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, Schwierigkeiten beim Lernen, mit der Sprache, bei der emotionalen und sozialen Entwicklung, erzählt Schulleitung Victoria Ledermann. "Dadurch ist die Leistung umso größer."
Um die Kinder soll es gehen
Noch größer wird sie, bedenkt man, dass die Kinder nicht nur auf der Bühne stehen, sondern das Drehbuch selbst mitgeschrieben haben. Die Namensgeberin der Schule, Greta Fischer, spielt eine Rolle, flüchtende Kinder und der Zweite Weltkrieg. Große Themen für kleine Köpfe.
Während Wolfsmehl die Probe vorbereitet, blickt er in kurzen Sequenzen darauf zurück, was bisher geschah. Ein Jahr ist es nun her, erzählt er, da traf sich der Künstler zum ersten Mal mit den Kindern. Ein Skript musste her. Eigentlich mag Wolfsmehl am Schreiben die Einsamkeit. Aber dieses Projekt ist etwas anders. Die Kinder sollen auf den Geschmack kommen. Lesen, Schreiben, Theater - das hat etwas mit dem Leben zu tun, mit ihrem Leben.
“Machen Sie nicht unbedingt ein Bild von mir in die Zeitung", wird Wolfsmehl später noch zwischen Tür und Angel sagen, "die Kinder sind das Wichtige." Wichtig ihr Selbstvertrauen, ihr Vertrauen in die Zukunft, ihr Platz in der Welt. "Viele tragen einen riesigen Rucksack an Problemen mit sich herum, für die sie nichts können", sagt er.
Regisseur Wolfsmehl schreibt die Gedanken der Kinder zu einem Stück
Sie einfach vor eine dicke Ausgabe der Buddenbrooks setzen, das würde kaum funktionieren, hier, im Sonderpädagogischen Zentrum, wie bei den meisten Kindern. Die Idee des Friedrich-Bödecker-Kreises, der hinter dem Projekt steht, ist deshalb eine andere. Die Kinder sollen den Text selbst formen, ihn gestalten, mit ihm arbeiten. Ein bisschen wie Knete, das kennen sie schon.
Und wer könnte das besser begleiten als derjenige, der sein Leben der Literatur gewidmet hat? Die Kinder brachten ihre Kreativität ein, teilten ihre Ideen, Wolfsmehl schrieb mit. Sie verbesserten, Szene für Szene, er wob ihre Gedanken ein.
Wolfsmehl und die Greta-Fischer-Schule, das ist nicht die einzige derartige Partnerschaft. Sie gehört einem ganzen Netzwerk von Autorenpatenschaften der Friedrich-Bödecker-Kreise in ganz Deutschland an. Rund vierzig Publikationen entstehen so jährlich. Der Bund fördert das Projekt.
Greta Fischer und das Thema Flucht
Nach und nach bekam das Drehbuch einen ernsten Anstrich. Zwei Themen kristallisierten sich heraus: Kinder auf der Flucht und, themenverwandt, die Namensgeberin der Schule, Greta Fischer. Miteinander zu tun hat das mehr, als man zunächst erahnen könnte: Im Jahr 1945 kam die Sozialpädagogin nach Dachau. Im Kloster Indersdorf richtete sie einen sicheren Ort für traumatisierte Kinder ein, im Rücken ein Team der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen. Es war das erste internationale Kinderzentrum der US-Zone.
Vielen der dortigen Kinder hatte dasselbe Schicksal getroffen wie der Jüdin Greta Fischer. Die Nazis hatten ihre Eltern in einem Konzentrationslager ermordet. Im Kloster Indersdorf fanden die Waisen ein vorübergehendes Zuhause. Jüdische wie nichtjüdische Kinder bekamen etwas zu essen, Medizin, psychologische Unterstützung, eine Schulbildung - und vor allem eines: Halt.
Greta Fischers Geschichte in 18 Szenen
Nun, 78 Jahre später, ist die Geschichte in 18 Szenen gegossen. Die Rollen sind verteilt, das Bühnenbild entworfen, die Kostüme durch einen Spendenaufruf im Kollegium zusammengesammelt. Das Kloster Indersdorf haben die Kinder selbst in Augenschein genommen, bei einem Ausflug, um sich reinzudenken, um Bühnenluft zu schnuppern, haben sie ein Münchener Theater besucht.
Um eine fiktive Kinderbande, die das KZ-Auschwitz überlebt hat, wird es am Donnerstag gehen. Zu Fuß machen sie sich auf den Heimweg nach Deutschland. Im Kloster Indersdorf wartet Greta Fischer auf die Kinder - und mit ihr ein neues, besseres Leben. Abenteuer, Freundschaft und Hoffnung treffen auf Verlust, Gefahr und Hunger. Schüsse fallen. Ein Gorilla, der bei einem Bombenangriff aus dem Prager Zoo ausgebrochen ist und eine Katze haben einen Gastauftritt.
Ja, richtig gelesen: Holocaust und Gorilla, reale Historie und kindliche Fantasie. In diesen Elementen emanzipiert sich das Stück von der Realität. Die Indersdorfer Historikerin Anna Andlauer hat das Drehbuch persönlich gelesen und abgesegnet.
Andlauer ist es auch, die vor Kurzem Kontakt mit den israelischen Verwandten von Greta Fischer hatte. Michael und Rena Plaschkes wollten zur Aufführung kommen. Ihr Wohnort in Israel liegt nah am Gazastreifen, dort herrscht nun Krieg. Gerade sind sie deshalb bei Verwandten untergekommen, an eine Reise nach Deutschland ist nicht zu denken. "We are tired of travelling around as refugees", sie seien es leid als Flüchtlinge herumzureisen, schreiben sie in einer E-Mail an Andlauer.
Zurück im Proberaum. Wolfsmehls Regieanweisungen füllen den Raum: Ihr habt Hunger! Ihr habt seit Tagen nichts gegessen! Nicht lachen, das ist ernst! Nicht alles läuft nach Drehbuch. Hier im Probenraum genauso wie draußen in der Welt. Inmitten des Chaos sitzt aufrecht Neli, auf einem Stuhl in der Mitte des Raums. Sie spielt Greta Fischer, konzentriert wartet sie auf ihren Einsatz. Ihre Zehenspitzen berühren gerade so den Teppichboden."